«Ich habe vom Körper und nicht vom Kopf heraus gezeichnet»
21. Juni 2024
Tobias Gutmann ist wohl der bunteste Künstler der Schweiz – nicht nur in seinem Auftreten, sondern auch in seiner Biografie. Aufgewachsen in Papua-Neuguinea ist er mit seinem Face-o-mat durch die halbe Welt getingelt und hat dabei über 5000 Menschen porträtiert. Wir treffen Tobias Gutmann in seinem Atelier – nicht zu einem Kaffee, sondern zu einem abwechslungsreichen Gespräch.
Tobias, du trinkst ja gar keinen Kaffee, sondern Tee. Wie konntest du denn überhaupt eine Kaffeeverpackung für ZURIGA entwerfen?
Klar erscheint das etwas absurd. Gleichzeitig war es aber auch ein Reiz. Ich habe im Leben durchaus schon Kaffee getrunken und mag den Geschmack. Aber weil ich es so selten tue, ist es für mich ein sehr intensives und aufregendes Erlebnis mit grosser Wirkung. Das hat mir beim Zeichnen geholfen, weil ich es als meine Aufgabe betrachte, neue Impulse und Eindrücke zu übersetzen. Es geht mir darum, das, was unsichtbar ist, was man fühlt, spürt, hört aufs Papier zu bringen. Weil ich bei Kaffee stark reagiere, ist es natürlich besonders reizvoll, dieses Gefühl in eine Zeichnung zu übersetzen.
Deine Designs, diese komprimierten Striche bewirken fast schon eine optische Täuschung…
Das macht auch Sinn, weil es gewissen Menschen beim Kaffeetrinken auch passiert (lacht). Ich habe bei euch ja alle Kaffeesorten degustiert. Das war ein Erlebnis, das ich dann wirklich am ganzen Körper gespürt habe.
Wie läuft so ein Prozess ab? Wie übersetzt man Gerüche und Geschmäcker in Bildern?
Wir haben mehrere Sessions gemacht und Manuel, der Creative Director bei ZURIGA, war auch dabei. So entstand ein Dialog über die Outputs. Das hat mir gefallen, weil wir auch fortlaufend reflektiert haben. Es war rasch klar, dass wir diese feinen, leicht flimmernden Linien mögen. Es war für mich eine schöne Übersetzung des Gefühls von Koffein. Wir haben dann aber festgestellt, dass die Verpackungen mit einem gewissen Abstand doch nicht funktionieren. Wir haben uns dann nochmals getroffen, neue Sachen ausprobiert, ich habe dickere Linien erschaffen, weil Kaffee ist auch etwas Kräftiges.
Kaffee zu visualisieren ist schon etwas ziemlich Cooles…
Ich habe mit meinen Zeichnungen den Geschmack der drei Kaffeesorten eingefangen und wollte, dass die Zeichnungen unterschiedlich sind und man sie gegenüberstellen und vergleichen kann. Die Zeichnungen sind verwandt und können miteinander kommunizieren. Es ist wie eine gemeinsame Sprache. Mir ist wichtig, dass die Zeichnungen nicht zu komplex, zu verstreut, zu verschnörkelt oder zu beliebig sind.
Wirklich? Es sieht nach einer intuitiven Leichtigkeit aus!
Ich versuche den Intellekt, dieses Verkopfte zu umgehen und ins Unterbewusstsein zu kommen und damit auch in meinen Flow. So habe ich dann bei meinem Projekt «Face-o-mat» mich irgendwann auf sieben Minuten festgelegt. Ich muss zeichnen, ohne zu überlegen. Ich muss aus dem Bauch heraus zeichnen, aus der Intuition heraus, wie du sagst. Dann wird das Resultat am besten. Das war auch bei den Kaffeeverpackungen so. Die letzte Zeichnung war der finale Griff. Weil ich aus dem Körper und nicht aus dem Kopf heraus gezeichnet habe.
Dann nährt sich dein künstlerisches Schaffen also aus dem Moment und der Intuition?
Zeichnen ist für mich wie Musik. Es geht um den Prozess und nicht nur um die Zeichnung, die am Schluss prominent sichtbar ist.
Wie würdest du diesen Zustand beschreiben?
Ich habe diesen Zustand mit meinem Projekt «Face-o-mat» entdeckt. Ich hatte Lust, Portraits zu zeichnen. Ich habe so viele Leute gezeichnet, sie standen Schlange und ich bin dann in so einen Flow gekommen. Zum Face-o-mat gehörte auch diese Konstruktion, nicht nur das Zeichnen selbst, sondern auch dieses Fenster, wo wir uns in die Augen schauen. Dieser Kasten hat mich etwas vor den Menschen geschützt und für sie war es auch einfacher, sich auf mich einzulassen. Aber als ich diesen fragilen Moment überwunden habe, hatte ich so viele spezielle Begegnungen. Durch den Kasten rund um mich und die Leute hat das auch eine Konzentration und Intimität zugleich geschaffen. In Japan standen dann so viele Leute an, dass ich schneller Zeichnen musste. Das hat mir aber auch geholfen, mir selbst zu vertrauen. Es gibt kein Falsch oder Richtig, sondern es ist eine Interpretation des Moments.
Mit dem Face-o-mat bist du bekannt geworden und warst in zahlreichen Medien. Gibt es ihn noch?
Den Face-o-mat gibt es noch, aber inzwischen gibt es auch Sai Bot, meinen digitalen Zwilling. Sai zeichnet ja auch, begegnet den Menschen aber mit einer Linse. Aber genau das macht es aus. Es geht nicht nur um die Zeichnung am Schluss, sondern den ganzen Rahmen, den Kasten, die Begegnung. Es ist eine Performance und die Zeichnung ist die Erinnerung an den Moment der Begegnung. Inzwischen habe ich auch schon mehrere Male mein Face-o-mat-Atelier installiert, bei dem sich die Leute gegenseitig zeichnen können.
Du wolltest die Leute animieren, nicht nur deine Zeichnungen zu konsumieren, sondern sie sollen selbst etwas erschaffen?
Ich liebe es, Menschen zu zeichnen und damit auch in ihre Kultur einzutauchen. Es ist ein Dialog, wenn ich Menschen zeichne, auch ein nonverbaler. Der Dialog findet statt, in dem wir ein Vertrauen schaffen. Ich schaue die Person an, sie mich, ich zeichne sie in meiner Interpretation und das ist ein intimer Moment, der verbindet. Im Centre Pompidou sind Menschen stundenlang angestanden, weil ein Künstler sie dort live gezeichnet hat. Dieses Happening wollte ich durch das Face-o-mat-Atelier entzaubern, in dem die Menschen sich auch selbst zeichnen können.
Du selbst hast schon über 5000 Menschen gezeichnet, in Japan, Saudi-Arabien, Tansania, Schweden überall… Was hast das mit dir gemacht?
Der Face-o-mat übt eine Faszination auf die Menschen aus. Vor allem auch in der heutigen, sehr digitalisierten Welt. Dass ein Mensch analog Menschen abstrakt zeichnet, weckt Interesse. Sie stehen Schlange und ich zeichne einen nach dem anderen. Irgendwann falle ich in einen meditativen Zustand, eine Art Trance oder eben diesen Flow. Jede Person ist unterschiedlich: vom Aussehen, vom Verhalten, vom Charakter. Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir machen, indem wir Menschen stereotypisieren. Letztlich sind wir alle gleich und je mehr Menschen ich zeichne, desto mehr verschwimmen all diese vermeintlich kulturellen Unterschiede. Hinter jeder Kultur steckt ein Mensch und da sind wir alle letztlich gleich. Es sind alle leicht nervös, wenn sie vor dem Face-o-mat sitzen, das äussert sich anders, aber letztlich ist es immer menschlich.
Als ich dich das letzte Mal getroffen habe, hattest du bunte Fingernägel, jetzt nicht? Hängt das mit deinen kreativen Schaffensphasen zusammen?
Nicht unbedingt, ich mag Buntes, wie du weisst, und die Fingernägel anmalen ist manchmal ein Ritual vor dem Zeichnen. Ich male zuerst meine Fingernägel an, dann male ich meine Zeichnungen (lacht). Übrigens habe ich damit in Dubai angefangen. Dort habe ich fast nur Frauen gezeichnet, weil die Männer an diesem Event nicht so sehr auf meine Performance angesprungen sind. Die Frauen haben meine Fingernägel gesehen und das hat auch eine Verbindung ohne Worte geschaffen.
Wer lädt dich eigentlich immer in all diese Länder ein?
Die Reisen finden immer in einem anderen Kontext statt: In China waren es Kulturinstitutionen, in Schweden ein Kunstfestival und in Dubai war ich an einem Anlass von Hermès.
Spannend, wie sind sie auf dich gekommen?
Ich hatte am Salone del Mobile in Mailand mit meinem Face-o-mat gezeichnet. Das war wohl für einige Besucher:innen eine willkommene Abwechslung zum sonstigen Programm, weil der Face-o-mat auch mit dem Kunst- und Designkontext bricht. Der Face-o-mat passt überall, aber auch irgendwie nirgendwo rein. Das ist seine Stärke, aber auch eine Herausforderung. Sei es im Centre Pompidou, wo Leute Kunstwerke betrachten oder in einem Café, in dem Leute versehentlich Kaffee über ihre Zeichnungen schütten.
Der Face-o-mat- kann also in einem Museum stehen oder auch am Strand.
Menschen verhalten sich in ganz unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedlich. In einer Galerie, in einem Museum, an einem Brand-Event oder eben am Strand. Das ist für mich interessant. Wenn ich mich festlegen würde, dann würde ich die anderen Welten ausblenden. Es geht mir um den Menschen und denen begegne ich in verschiedenen Kontexten.
An was arbeitest du zurzeit?
Ich bin inzwischen Vater von zwei kleinen Kindern geworden. Das ist neben der Kunst auch eine herausfordernde Aufgabe. Dazu habe ich das Thema KI durch Sai Bot vertieft. Die ganze Digitalisierung kam in gewissen Momenten auf, etwa als Menschen mit dem Smartphone vor dem Gesicht in den Face-o-mat gesessen sind und alles konstant gefilmt haben. Sie haben alles durch den Screen wahrgenommen.
Schaffst du dich mit Sai Bot nicht selbst ab?
KI wird unser Leben verändern, auch das der Künstler:in. Mit meiner Auseinandersetzung mit KI und Sai Bot habe ich aber verstanden: Sai Bot hat zwar das Handwerk vom Porträt zeichnen gelernt, aber kann es nicht reflektieren. Ein Strich mit echter Farbe auf echtem Papier, dieser persönliche und intime Moment, wenn sich zwei Menschen Minuten lang gegenübersitzen. Dieses Erlebnis kann KI nicht erschaffen. Weil die Essenz dieses Werks, dieser Performance, der Mensch ist.
Fotos: Anne Gabriel-Jürgens